KonfliktAbility = Empathie PLUS Durchsetzungsvermögen

Konflikte können Träume platzen lassen:

Ich habe in meinen Zwanzigern miterlebt, wie viele tolle Projekte von Menschen mit wirklich guten Absichten schwierig oder anstrengend wurden und manche von ihnen sogar mit einem großen Knall scheiterten, weil Konflikte nicht gut geklärt werden konnten.

Ein Schüsselmoment war eine Konfliktsituation mit meinen besten Freunden, mitten in den Bergen Nordspaniens. Dort hatte ich mir einen Kindheitstraum erfüllt und gemeinsam mit meinen Freunden eine Schäferhütte gekauft, die wir zu einer Berghütte umbauen wollten. Mein bester Freund war auch dabei. Wir waren überfordert mit der Baustelle und hatten sehr unterschiedliche Herangehensweisen an das Bauen. Am Ende eines langen Tages stritten wir uns so heftig, dass ich – ja, sogar ich – einen Autospiegel (an meinem eigenen Auto) vor Wut zertreten habe. (Mehr darüber erfährst du in diesem Blogartikel hier)

Gesucht: echte Konfliktfähigkeit

Wie kann es sein, dass sogar Kindheitsträume, die man sich mit Freunden erfüllen möchte, (fast) an einem Konflikt scheitern? Was braucht es, damit so etwas nicht immer wieder passiert? Wie können Menschen ihre Konflikte klären – und wie kann ich das tun – ohne dass so viel destruktive Energie freigesetzt wird, die Menschen erschöpft, ausbrennt, Projekte zerstört und letztlich sogar Gewalt und Kriege in die Welt bringt?

Nachdem mein Freund und ich uns wieder versöhnt hatten, machten wir uns auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen und stießen auf die Gewaltfreie Kommunikation. Marshall B. Rosenberg war ihr Begründer, und dieser Ansatz ist wohl einer der bekanntesten, wenn es darum geht, Konflikte nachhaltig und ohne Gewalt zu lösen.

Gewaltfreie Kommunikation: Eine erste Erkenntnis

Ein zentraler Ausgangspunkt der Gewaltfreien Kommunikation ist: Im Konfliktfall reden wir in der Regel in universellen Bewertungen, Angriffen und Abwertungen:

  • „Das ist schlecht!“

  • „So geht das nicht!“

  • „Du bist falsch!“

  • „Das ist Verrat!“

Doch eigentlich meinen wir damit etwas ganz anderes:

  • „Ich brauche mehr Planung.“

  • „Ich finde einen anderen Weg richtig.“

  • „So ist es für mich nicht gut.“

  • „Ich brauche mehr Sicherheit.“

  • „Mir fehlt etwas.“

Wenn wir es schaffen, uns auf der Ebene von Bedürfnissen und Werten zu verständigen, anstatt uns mit Anschuldigungen, Anfeindungen oder universellen Moralvorstellungen zu überziehen, wird es viel wahrscheinlicher, dass wir Konflikte wirklich klären können.

Die Grenzen der Empathie

Die zentrale Kompetenz, um das zu erreichen, ist nach Rosenberg die Empathie. Und zwar sowohl für sich selbst („Was brauche ich eigentlich?“) als auch für das Gegenüber („Was bewegt die andere Person wirklich, neben dem, was sie bewertend äußert?“).

Ich war begeistert von diesem Ansatz und machte diverse Ausbildungen. Ich wurde Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation, bewegte mich in einer Blase von Menschen, die diesen Ansatz lebten und mit ihm arbeiteten. Ich war (und bin) ein großer Fan der Empathie.

Doch nach einer Weile merkte ich: Viele Menschen, die sich von der Gewaltfreien Kommunikation angezogen fühlen, sind ohnehin schon sehr empathisch. Und auch in Organisationen, die GFK in ihre Unternehmenskultur integrieren wollten, gab es oft eine klare Neigung zur Empathie. Anfangs taucht man begeistert in ein neues Konzept ein. Doch mit der Zeit werden die ersten Irritationen spürbar:

  • Warum gibt es in Empathie-zentrierten Räumen manchmal ein Gefühl von Unbehagen?

  • Warum werden dort so selten interne Konflikte angesprochen, obwohl die GFK doch genau das ermöglichen soll?

  • Warum fällt es mir trotz all der Theorie und Empathie immer noch schwer, meine eigenen Konflikte auszutragen?

  • Warum werde ich nicht wirklich konfliktfreudiger, obwohl ich doch genau weiß, wie es theoretisch gehen sollte und wie wertvoll Konflikte sind?

Dann wurde mir klar: So wertvoll Empathie ist – sie allein reicht nicht aus. Sie braucht ein Gegengewicht: Durchsetzungsvermögen. Vielleicht kann man auch sagen, dass Durchsetzungsvermögen und Empathie sowas sind wie zwei bessere Hälften – die Zusammen etwas richtig gutes ergeben und sich wunderbar ergänzen und darin auch brauchen.

Warum Durchsetzungsvermögen entscheidend ist

Wenn ich nur empathisch bin, kann ich zwar wunderbar die Konflikte anderer begleiten und zu ihrer Klärung beitragen, weil ich alle Seiten sehen und verstehen kann. Aber ich bin immer noch gehemmt, wenn es um meine eigenen Konflikte geht. Denn Konflikte entstehen nicht nur dadurch, dass wir einander nicht verstehen. Sie entstehen auch dann, wenn Bedürfnisse miteinander ringen und ausgehandelt werden müssen und dafür vor allem erstmal ganz klar auf dem Tisch gepackt werden muss, was beide Seiten brauchen und sich wünschen.

Durchsetzungsvermögen bedeutet:

  • Für die eigenen Bedürfnisse und Anliegen aktiv einzustehen, auch wenn das Gegenüber anderer Meinung ist oder ich dieses befürchte.

  • Grenzen klar zu setzen, auch wenn es unbequem ist. Nein sagen.

  • Sich selbst ernst zu nehmen, anstatt immer nur Harmonie herzustellen.

Empathie ohne Durchsetzungsvermögen führt dazu, dass Menschen ihre Konflikte nicht wirklich austragen. Sie weichen aus, lenken sich ab oder "zaubern" Konflikte durch Verständnis für die andere Seite einfach weg. Aber auf Dauer staut sich dadurch Frustration an, die sich dann innerlich akkumuliert, zu enttäuschten Rückzügen oder manchmal auch plötzlichen Ausbrüchen führt.

Das gilt besonders für Menschen, die von Natur aus empathisch sind. Sie sind vielleicht hervorragende Mediatoren für andere, aber ihre eigenen Konflikte bekommen sie oft nicht gut gelöst. In Arbeitskontexten führt das dazu, dass Unzufriedenheiten lange nicht direkt an- und ausgesprochen werden – bis sie plötzlich dann doch mal (so richtig) explodieren. In solchen Momenten sorgt unser System Danke der Aggression, die sich dann doch ihren Weg sucht, dafür, dass wir doch auspacken – aber dann oft auf eine Art und Weise, die uns eigentlich fremd ist und nicht unsere Werten entspricht und die auch häufig eher destruktiv ist.

Dabei ist Durchsetzungsvermögen nicht gleich Aggression. Ich verstehe darunter die Fähigkeit: zu wissen, was ich will, das genau zu kommunizieren und mich dafür einzusetzen, dass ich das bekomme, was ich mir wünsche – und dem Gegenüber genau das gleiche „Recht“ einzuräumen, ohne ihn Vernichten oder Abwerten zu müssen (das ist für mich der zentrale Unterschied zur Aggression).

Fazit: Wahre Konfliktfähigkeit braucht beides: Empathie und Durchsetzungsvermögen

Wirklich konfliktfähig ist nur, wer beides hat: Empathie und Durchsetzungsvermögen.

  • Durchsetzungsvermögen ohne Empathie wird schnell aggressiv und neigt dazu, Feindbilder zu erschaffen.

  • Empathie ohne Durchsetzungsvermögen führt dazu, dass Konflikte nicht wirklich ausgetragen werden, bis dann doch mal das Fass überläuft und durch Aggression ans Tageslicht kommt, was für uns nicht passt, aber oft in eine Form, die für das Gegenüber schwer nachvollziehbar ist.

  • Durchsetzungsvermögen PLUS Empathie führt dazu, dass alle in einem Konflikt involvierten Interessen, Bedürfnisse oder Anliegen klar auf den Tisch kommen und respektvoll miteinander in eine produktive (nicht destruktive) Spannung treten können. Auf dieser Basis kann etwas Neues entstehen. Auf dieser Basis stimmt es dann, dass Konflikte oft einen „Schatz“ bergen, und durch sie Neues in die Welt kommt.

Aber: wie kann man Durchsetzungsvermögen trainieren? Wie wird man durchsetzungsstärker, wenn man es noch nicht ist? Und wie bleibt man trotzdem empathisch? Denn am Ende des Tages ist das wahre Konfliktfähigkeit, und es ist sowas wie eine hohe Kunst, beide Kompetenzen entwickelt zu haben und im Konflikt zur Verfügung zu haben:  KonfliktAbility = Durchsetzungsvermögen + Empathie

Empathie UND Durchsetzungsvermögen trainieren:

Gerade wenn wir eine Neigung zur Empathie haben, besteht die Herausforderung in einem Konflikt darin, einerseits auf den anderen zuzugehen – empathisch zu sein – und andererseits ein Stück weit auf Distanz zu gehen, sich zu entfalten und zu sich selbst zurückzufinden. Ein Coach schrieb mal in einem Buch, dass man die Abwertung des Gegenübers, die wir ja nicht wollen, auch „funktional“ betrachten kann: Den anderen ein bisschen doof zu finden, hilft mir, die nötige Distanz einzunehmen, um meine Interessen klar auf den Tisch zu legen. Das kann manchmal ein Workaround sein, wenn ich es anders nicht hinbekomme, aber ich glaube, es geht auch anders: Statt den anderen abzuwerten, kann ich mich auch aufwerten – ohne ihn abzuwerten. Es geht einfach darum, auf Augenhöhe zu kommen – nicht darüber. Und das funktioniert, wenn ich davon ausgehe, dass meine Bedürfnisse, Anliegen und Meinungen genauso zentral sind wie die des anderen – nicht weniger und nicht mehr. Damit kommen wir schnell zum Thema Selbstwert: Ich bin mir selbst genauso viel wert wie mein Gegenüber, und ich nehme mich genauso wichtig. Und dann kommt das Thema Mut ins Spiel: Den Mut, mich zu zeigen, auch wenn ich nicht weiß, wie mein Gegenüber reagieren wird.

Nach meiner Erfahrung fällt es Menschen mit einem Überhang an Empathie in der Regel leichter, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, wenn sie mit Menschen zusammen sind, die ebenfalls eher „zu empathisch“, „ungefährlich“ und sanft sind. Sobald das Gegenüber seine Interessen etwas zackiger vertritt und man nicht sicher sein kann, wie es reagiert, wenn Spannung entsteht, wird es schwieriger, die eigenen Anliegen offen zu zeigen, sobald ein Konflikt anzukündigen scheint. Das heißt, ich muss lernen, mit dem Risiko zu leben, dass ich nicht immer die Garantie habe, von allen stets und zu jeder Zeit gemocht zu werden. Ein durchaus vertretbares Risiko – auch wenn es sich anfangs „gefährlich“ anfühlt, wenn ich es nicht geübt habe.

Durchsetzungsvermögen trainieren funktioniert wie Empathie trainieren: machen, machen, machen. In der Gewaltfreien Kommunikationsausbildung haben wir immer wieder geübt, empathisch zu sein. Einerseits hatten wir viel Raum und Zeit, um mit uns selbst in eine empathische Beziehung zu kommen – wahrzunehmen, wie es mir geht, was ich fühle, rauszufinden, was ich eigentlich brauche, welche Bedürfnisse gerade erfüllt sind und welche nicht, und warum ich mich schlapp fühle. Anderseits die Empathie für das Gegenüber: immer wieder zuhören mit dem ganzen Wesen, verbinden, präsent sein, üben, wie es ist, einen anderen Menschen so zu sehen und zu hören, dass ich weniger in meinen Schultern verharre und mehr aus der Perspektive des anderen erlebe, wie es der Person gerade geht und was sie braucht. Tania Singer – eine bekannte Neurowissenschaftlerin – hat nachgewiesen, dass das Gehirn auch in puncto Empathie über Neuroplastizität verfügt. Das heißt, die Strukturen im Gehirn verändern sich, wenn wir Mitgefühl und Empathie trainieren – das lässt sich wissenschaftlich nachweisen. In unseren Empathietrainings in den Jahresausbildungen Gewaltfreie Kommunikation haben wir also unser Empathiezentrum nachhaltig gestärkt.

Ebenso lässt sich Durchsetzungsvermögen trainieren – und es gibt, vor allem im Bereich der Führungskräfteentwicklung, diverse Trainings genau zu diesem Zweck. Durchsetzungsfähiges Verhalten, so schreibt es Gerard Shaw in Endlich Durchsetzen, besteht aus drei Komponenten:

  1. Wissen, was man will,

  2. Sagen, was man will – klar, deutlich und nicht vage, verklausuliert oder in einer verwirrenden Sprache,

  3. Sich holen, was man will – durch Kommunikation und Handlung, respektvoll, freundlich und mit einer gewissen Entschlossenheit.

Neben der eigenen Klarheit darüber, was ich will, spielt die Art und Weise der Kommunikation mit anderen eine entscheidende Rolle. Immer wieder formuliere ich im Kontakt mit anderen meine Bedürfnisse als einen der ersten Hauptsätze – ohne große Vorrede: „Ich wünsche mir xy! Ich brauche xy!“ (Danach folgt, wenn nötig, die Begründung). Dabei erlebe ich, wie sich das anfangs wackelig und heikel anfühlt und mit Übung klarer und stärker wird.

Ich muss mir immer wieder bewusst machen: Wo liegen meine Grenzen? Welches Erleben in meinem System signalisiert mir, dass gerade eine Grenze überschritten wurde? Und dann übe ich, wie ich im Kontakt mit anderen eine Grenze markiere – wie ich klar „Nein“ oder „Stopp“ sage, mit Durchsetzungsvermögen statt mit Aggression. Beispiele wären: „Sorry, wenn Sie mich beschimpfen, werde ich mit Ihnen nicht verhandeln!“, „Können Sie bitte einen Schritt nach hinten machen, das ist mir zu nah!“, „Nein, ich leihe Dir kein Geld, ich möchte das nicht!“, „Heute Abend brauche ich Ruhe, ich will keinen Sex!“ oder „Mir ist das zu laut – machen Sie bitte die Kopfhörer auf, wenn Sie in der U-Bahn Musik hören!“ Das kann zunächst im Trockenen, alleine zu Hause oder vor dem Spiegel geübt werden – oder in einem Gruppensetting. Wichtig ist, dass ich das konkrete Handeln übe, sonst formt sich in meinem Gehirn nichts um!

Als ich merkte, dass mir an der Stelle des Durchsetzungsvermögens etwas fehlte, nahm ich mir beispielsweise vor, nie wieder in öffentlichen Verkehrsmitteln zu ertragen, wenn jemand neben mir ohne Kopfhörer Musik hört oder die Kopfhörer trotzdem zu laut nach außen dringt. Das war manchmal eine Überwindung, und ich musste mich an mein eigenes Versprechen erinnern – aber es war ein guter Einstieg, um mein eigenes Durchsetzungsvermögen zu trainieren. Es fühlt sich richtig gut an, freundlich und bestimmt für meine Bedürfnisse einzutreten.

Allein das Verstehen, dass Durchsetzungsvermögen wichtig ist und dass mir davon vielleicht etwas fehlt, reicht nicht aus – es geht ums Üben, üben, üben. Es ist eigentlich egal, wo ich anfange, Hauptsache, ich übe.

Mit KonfliktAbility kommt Neues in die Welt – wir können es gebrauchen!

Wenn ich sowohl Empathie als auch Durchsetzungsvermögen trainiere, entwickelt sich nach und nach ein anderes Gehirn – eines, das beides kann. Dann kann ich auf einer ganz anderen Ebene in Konflikte gehen, in diese Spannung, die zwischen Menschen entsteht. Ich kann sie aushalten, halten und ein Suchen und Ringen zulassen – zwischen verschiedenen Polen, Werten, Anliegen, Meinungen und Bedürfnissen. Ich lasse mich von der Perspektive des anderen berühren, verliere meine eigene nicht aus den Augen und lasse mich trotzdem von der des anderen bewegen (und umgekehrt). So gelangen wir in ein Fahrwasser, in dem die Kunst der Konfliktfähigkeit das Potenzial hat, Konflikte zu heben – im Ringen zwischen Polaritäten Neues entstehen zu lassen, indem wir bei uns bleiben, uns vom anderen berühren lassen, uns bewegen, den anderen bewegen und schließlich etwas Neues kreieren.

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Durchsetzungsvermögen lernen um Konflikte besser lösen zu können

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Feedbackkultur und KonfliktAbility: Wie konstruktives Feedback Konflikte verhindert und Teams stärkt