“Mistake-ability”: von Fehlerfreundlichkeit zu Fehlerfähigkeit beim agilen Arbeiten
Ein zentralere Gedanken von Agilität ist, dass möglichst zügig ein Output produziert wird, welches dann am jeweiligen Markt von Kunden getestet und gefeedbackt wird. Auf der Basis von Try and Error sowie Feedback wird das jeweilige „Produkt“ im Rahmen eines iterativen Prozesses kontinuierlich verbessert. Statt der Perfekten Planung ist hier das kontinuierliche Lernen die zentrale Ressource für die Erschaffung eines optimalen Produktes.
In dieser einfachen Formel steckt nicht weniger als ein grundlegender Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie wir etwas in die Welt bringen. Oder anders gesagt: Lernen und Erschaffen kehrt zu seiner ursprünglichen Form zurück: Denn wenn man sich anschaut, wie kleine Kinder z.B. laufen lernen, ist die Art und Weise, wie wir in agilen Kontexten lernen sollten gar nicht so anders: ausprobieren was funktionieren könnte, Funktionalität testen, Resultate feststellen, Feedback einholen und nochmal versuchen. Dieser im kindlichen Lernen täglich vielfach stattfindende iterative Prozess führt zu einem ideal an die jeweilige Umwelt angepassten Lernergebnissen.
Kinder lernen nach agilen Prinzipien, Erwachsene nicht (mehr)
Der Vorteil eines jungen Kindes zu einem sozialisierten Erwachsenen ist jedoch: das Kind kennt noch keine Bewertungen von Fehlern. Es bemerkt lediglich funktioniert/ funktioniert nicht/ funktioniert anders. Es kennt noch keinen Scham dafür, etwas „falsch“ gemacht zu haben und damit im Kontakt mit anderen Menschen aufrecht stehen zu bleiben. Es ist neugierig, probiert aus und holt sich dadurch die Information, ob und wie etwas funktioniert. Das Feedback aus der Umwelt triggert das Kind noch nicht. Es kann es als Information verarbeiten und auf dieser Basis seinen Lernprozess fortsetzten.
Anders bei den meisten Erwachsenen. Wir sind es gewöhnt, für unsere Fehler bewertet zu werden. Fehler zu machen, ist den meisten Menschen unangenehm. Wir haben eine Tendenz unsere Fehler zu kaschieren und es gibt wenige Menschen die ganz transparent sich ihre eigenen fehlerhaften Prozesse anschauen um „einfach nur“ festzustellen, was sie beim nächsten Versuch besser machen können.
So fällt es vielen Menschen schwer, Kritik oder „negatives“ Feedback gut aufzunehmen. Gut bedeutet hier im Sinne einer Information: „so funktioniert es (noch) nicht (gut), du kannst noch optimieren“. Und weil wir wissen, wie schwer es ist, „negatives“ Feedback zu hören, fällt es vielen Menschen auch schwer, dergleichen flüssig und ohne viel Energieverlust zu geben. Wir geben uns oft große Mühe, wie wir Kritik anbringen oder schieben es vor uns her, unsere Meinungen klar zu äußern. Was vielen Menschen schwer fällt, sind nun aber Kernkompetenzen, ohne die agiles Arbeiten nicht funktioniert: Fehlerfreundlichkeit und Transparenz, sowie Kritik und Feedback schnell und flüssig nehmen/ geben können.
Fehlerfreundlichkeit und Kritik- und Feedback: zentral beim agilen Arbeiten
Denn: um zügig ein erstes Produkt in die Welt zu bringen, brauche ich mir selbst gegenüber einen relativ entspannten Umgang mit meinen „Fehlern“. Ich brauche „negatives“ Feedback aus der Welt. Das Produkt soll ja in die Welt, bevor es perfekt ist, damit ich über das Produkt im Kontakt mit der Welt durch das Feedback von Kunden(-gruppen) lernen kann. Dieses Lernen soll nicht erst dann passieren, wenn das Produkt weitestgehend fertig ist (im Sinne von testen), sondern es soll direkt in den Produktionsprozess einfließen, der deshalb iterativ und nicht linear ist.
Ich als Teammitglied muss mich also zeigen können, in dem, was ich „falsch“ gemacht habe. Scham ist dabei hinderlich. Eine Kultur des Blaming und Shaming auch. Vielmehr muss es innerhalb der Organisation einen positiven Bezug zu Fehlern geben: du darfst, du sollst sogar Fehler machen! Kaschieren von Fehlern ist hier ein absolutes no go. Sich vor Kritik und Feedback geben zu drücken auch. Es nicht gut hören können, wäre eine kontinuierliche Zusatzbelastung in einer fehlerfreundlichen, also auch Kritik- und Feedbackfreudigen Arbeitsumgebung.
Ich und Fehlerfreundlichkeit:
Herbst 2021: ich habe das Glück bei einem 4 Tage „Company xy goes agile“ Training als Co-Trainerin dabei zu sein. Meine Kompetenz als Kommunikationstrainerin die sich ein Stück weit mit agilen Prozessen auskennt, wurde angefragt. Gleichzeitig ist unser Auftrag dem Team die Grundlagen von Scrum, Kanban und Co. beizubringen und danach ein völlig neue Zusammensetzung des Teams nach Scrum zu begleiten. Als Ergebnis soll das gesamte Team in Scrum Teams aufgeteilt sein, ein Scrum Master soll bestimmt werden und erste Arbeitsschritte geplant werden. An den Abenden soll darüber hinaus noch in gemütlich süffiger Atmosphäre Teambuilding passieren. Und: vorher hatte kaum jemand aus dem Team je was von agilen Prozessen gehört.
Ein völlig überdimensionierter Arbeitsauftrag? Ja. Und: da hat jemand bei der Auftragsklärung gepennt: Ja. Das das ganze nicht zu schaffen war, zeigt sich an Tag 3 des Trainings. Die Stimmung kippt, das Team ist überfordert mit dem ganzen Input und den Anforderungen. Wir als Trainer wackeln auch, weil uns die zunehmende Unzufriedenheit im Team wie eine Wand aus Widerständen und Missfallen entgegenschlägt.
Für eine Trainerin eine unangenehme Situation: das Training läuft nicht! Das Managerteam kommt mit hochroten Köpfen auf mich zugerollt und mit einer quasi Drohung wird von mir gefordert, dass wir das „Ruder jetzt mal rumreissen sollen“, und das „Team ins Boot holen müssen“. Ich merke Überforderung in mir, mein Blutdruck steigt ungefähr auf das Niveau des rotköpfigen Managers. Ich fange sofort an, an mir zu zweifeln: „was habe ich falsch gemacht? Was hat mein Kollege falsch gemacht? Sind wir doch kein gutes Team? Ich kippe den Druck mit einer zusätzlichen Tasse Kaffee in mich hinein, frage mich nervös wie wir jetzt noch das Ruder rumreissen können und den Transformationsprozess in den letzten 1,5 Tagen noch zu einem guten Abschluss bringen. Ich spreche mit meinem Kollegen, gebe den Druck weiter an ihn: du musst das jetzt besser machen.. aber was? Wo hakt es? Wir schwimmen weiter, bringen das Training noch zu Ende, es ist irgendwie ok, aber am Ende sind wir weit davon entfernt ein wirklich gutes Produkt abgeliefert zu haben.
Ein perfektes Beispiel für eine verpasste Chance, einen Fehler schnell zu korrigieren. Was hat dafür gefehlt: viel! Zuerst einmal ein kühler Kopf. Eine klare Haltung. Auch als Trainerin darf ich Fehler machen! (Fehlerfreundlichkeit). Dann: eine Art und Weise, negatives Feedback zu äußern, die es leichter macht, es auch zu hören (Kritik- und Feedback als Kompetenz). Und dann der Mut und der Moment, um zu schauen, wo liegt der Fehler, wer hat ihn wie gemacht, wie ist er passiert (Transparenz), um ihn dann ggF. noch zu korrigieren (zweite Schleife).
Im Nachhinein ist der Fehler offensichtlich: der Auftrag (den wir selbst nicht abgeschlossen, sondern nur ausgeführt haben) war total überfrachtet für 4 Tage. Das musste unbefriedigend enden. Klassischer Fehler in der Auftragsklärung: die Wünsche des Kunden zu sehr bedienen zu wollen. Das zu sehen war uns in der akuten Situation nicht möglich, weil wir zu sehr getriggert waren. Getriggert waren wir, weil eine innere Stimme meint: „du darfst keinen Fehler machen!“, als agiler Coach/ Berater beim agilen Training schon gar nicht!
Fehlerfähigkeit: von der Scham zur Neugierde
Und es ist ja auch nicht angenehm, mitten in einem Training festzustellen, es läuft nicht. Wenn ich in dem Moment aber anstelle von Scham eine Neugierde entwickele und innehalte, habe ich die Möglichkeit den Fehler zu sehen und dann ggf. noch zu korrigieren.
Wie wäre es besser gewesen? Wir hätten in Ruhe festgestellt, mit dem Management Team: es läuft nicht gut. Wir hätten uns einen Moment zusammengesetzt und geschaut: woran liegt es? Ah, der Auftrag ist nicht zu schaffen in 4 Tagen, ah da wurde etwas versprochen, was wir nicht einlösen können. Also hätten wir das Produkt anpassen können an die Bedingungen: was ist in 4 Tagen schaffbar, bis wohin kann der Prozess jetzt noch in zufriedenzustellender Art und Weise geführt werden? Wie kann es dann weitergehen? Resultat wäre ein besseres Produkt gewesen, zufriedenere Kunden und zufriedenere TrainerInnen.
Auch für agile Coaches sind diese Kernkompetenzen des agilen Arbeitens nicht immer frei und flüssig verfügbar. Weil es zwar das ist, was wir können, wenn wir klein sind – was wir aber verlernen, sobald wir stärker in diese Gesellschaft hineinwachsen. Fehlerfreundlichkeit als Firmenwert zu postulieren, ist das eine. Fehler selbst zu machen und damit transparent zu sein, etwas ganz anderes.
“Mistake-ability”: Fehlerfreundlichkeit als Kompetenz
Fehlerfreundlichkeit und Transparenz sowie Kritik und Feedback geben und hören können hängen als Kompetenzen eng zusammen. Sie sind einerseits Werte des agilen Arbeitens, die sich schön anhören und die wichtig sind. Es handelt sich hierbei aber auch um Kompetenzen. Für einen agilen Transformationsprozess sind diese Kompetenzen ebenso zentral, wie die agilen Frameworks. Ohne sie können die agilen Frameworks nicht flüssig funktionieren. Sie sollten im agilen Transformationsprozess von Anfang an und kontinuierlich mit in den Blick genommen werden und einen expliziten Raum zum Üben und Lernen bekommen. Denn: Werte können wir postulieren – Kompetenzen müssen wir trainieren.