KonfliktAbility I: Haben wir Konflikte – oder haben Konflikte uns?

Konflikte können unglaublich schnell unglaublich viel Dynamik entwickeln. Es gibt diese Momente, in denen wir nur einen kleinen organisatorischen Punkt klären wollten – und keine drei Minuten später stecken wir mitten in einer hitzigen Debatte. Wir sagen Dinge, die wir später bereuen, und schaukeln uns gegenseitig hoch. Am Ende hat niemand etwas davon, außer einem Berg an zusätzlichem emotionalem Aufwand. Wie kann das sein? Und vor allem: Wie können wir da aussteigen, bevor es zu weit geht?

Wenn Konflikte uns „haben“

Der österreichische Konfliktspezialist Friedrich Glasl beschreibt genau dieses Phänomen: In Konflikten verlieren wir oft das Gefühl, dass wir sie aktiv steuern. Stattdessen scheinen die Konflikte uns zu steuern – oder zu „haben“. Sein Modell zeigt, dass Konflikte oft eine Eigendynamik entwickeln, in der wir nicht mehr bewusst als unser erwachsenes Ich handeln, sondern von impulsiven, oft unbewussten Reaktionsmustern überwältigt werden.

Das Bild passt gut zu dem, was ich in meinen eigenen Konflikten, in der Dynamik meiner Kinder oder in den Konflikten von Paaren und Teams sehe, die ich begleite. Konflikte haben eine Art Sog – und bevor wir es merken, sind wir mittendrin.

Die Dynamik zwischen Absicht und Wirkung

Ein entscheidender Punkt in der Eskalation von Konflikten ist die Lücke zwischen Absicht und Wirkung. Beide Seiten haben in der Regel eine Absicht – zum Beispiel, sich zu erklären, zu verteidigen oder eine Grenze zu setzen. Doch die Wirkung, die diese Absicht auf die andere Person hat, ist oft anders als erwartet oder gewollt. Gerade in eskalierten Konflikten ist die Wirkung häufig stärker als die beabsichtigte Absicht. Diese Diskrepanz treibt die Konfliktdynamik weiter an.

So funktioniert die Spirale:

  1. Reiz: Jemand tut oder sagt etwas, das uns ärgert, provoziert oder frustriert.

  2. Reaktion: Wir reagieren darauf mit einer bestimmten Absicht – etwa, uns zu erklären oder uns zu verteidigen.

  3. Wirkung: Unsere Reaktion löst bei der anderen Person etwas aus, das oft stärker oder anders ist, als wir beabsichtigt hatten.

  4. Gegenschlag: Die andere Person reagiert wiederum mit einer eigenen Absicht – doch auch hier ist die Wirkung oft stärker als die Absicht.

Mit jeder Runde wird die Energie im Konflikt höher. Es ist die Lücke zwischen Absicht und Wirkung, die diese Dynamik möglich macht und Konflikte hochschaukelt.

Kommunikation: Ein Hebel zur Deeskalation

Obwohl wir nie vollständig kontrollieren können, wie unsere Worte beim Gegenüber ankommen, können wir mit einer guten, genauen und wenig triggernden Kommunikation dazu beitragen, die Lücke zwischen Absicht und Wirkung zu verkleinern. Das bedeutet:

  • Klarheit: Unsere Absicht so klar wie möglich formulieren.

  • Wertfreiheit: Bewertende oder vorwurfsvolle Sprache vermeiden, da sie die Wirkung oft stärker und negativer macht.

  • Gefühle benennen: Statt Vorwürfe zu machen, die eigenen Gefühle ausdrücken („Ich bin gerade frustriert, weil...“).

Dadurch kann die Eskalation gedämpft werden. Gleichzeitig bleibt ein gewisses Maß an Unvorhersehbarkeit bestehen: Wir können nie völlig sicher sein, wie unsere Worte interpretiert werden oder welche Wirkung sie haben.

Was passiert in unserem Gehirn?

Neurowissenschaftlich betrachtet, werden wir in solchen Momenten von unserem limbischen System gesteuert. Das ist der Teil unseres Gehirns, der für den Fight-or-Flight-Modus verantwortlich ist. Hier geht es ums Überleben: kämpfen, todstellen, oder fliehen. Der Teil unseres Gehirns, der für Reflexion, Empathie und bewusste Entscheidungen zuständig ist, wird in solchen Momenten quasi übersteuert. Wir sind dann tatsächlich nicht mehr „wir selbst“.

Wie kommen wir da raus?

Die gute Nachricht ist: Wir können lernen, uns in solchen Momenten wieder zu regulieren. Hier ein paar Ansätze:

  1. Selbstunterbrechung: Wenn du den Sog spürst, hilft es, bewusst ein Stopp-Signal zu setzen. Das kann ein Satz wie „Ich brauche kurz eine Pause“ oder „Lass uns das später klären“ sein. Wichtig ist, dass du die Dynamik unterbrichst, bevor sie weiter eskaliert.

  2. Zeit verzögern: Konflikte leben von ihrer Schnelligkeit. Wenn wir die Dynamik entschleunigen, gibt es Raum zum Nachdenken. Beispiel: „Ich merke, das wird gerade schwierig. Lass uns in einer Stunde nochmal darüber sprechen.“

  3. Emotionen benennen: Statt in der Sachebene zu verharren, hilft es oft, die Gefühlsebene direkt anzusprechen: „Ich bin gerade so wütend, dass ich Angst habe, etwas zu sagen, was ich später bereue.“ Das schafft Bewusstsein – und entschärft oft die Situation.

  4. Humor und Perspektivwechsel: Manchmal hilft es, die Absurdität der Situation zu erkennen. Humor kann Spannung auflösen: „Wir machen hier gerade den Müll zum Weltuntergang.“

  5. Trainieren, den Sog zu bemerken: Es braucht Übung, den Moment zu erkennen, bevor der Konflikt uns vollständig hat. Achtsamkeitstechniken können helfen, früher wahrzunehmen, wann der eigene emotionale Zustand kippt.

Ein demütiger Blick auf Konflikte

Die schlechte Nachricht: Das klingt einfach, gelingt aber häufig nicht (aber es gelingt auch immer mal wieder doch). Denn Konflikte haben einen Sog ungefähr vergleichbar wie den, den eine Zigratte auf frisch gebackene NichtraucherInnen hat (von denen es ja auch einige schaffen, einige viele aber ja auch nicht)

Es ist faszinierend und ernüchternd zugleich, wie viel Macht Konflikte über uns haben können. Sie zeigen uns unsere Verletzlichkeit, aber auch, wie viel wir über uns selbst lernen können. Vielleicht können wir diese Macht entzaubern, indem wir uns immer wieder bewusst machen: Konflikte sind Teil des Lebens. Aber wir müssen ihnen nicht ausgeliefert sein. Der Weg zur echten Konfliktfähigkeit – oder, wie ich es nenne, zur Konfliktability – beginnt mit dem Mut, Verantwortung für die eigene Dynamik zu übernehmen.

Zurück
Zurück

KonfliktAbility II: Von der „dämonisierten Zone“ in eskalierten Konflikten, Schatten-Ichs und dem Schatz im Matsch

Weiter
Weiter

3 Grad Mehr? Lieber nicht.