3 Grad Mehr? Lieber nicht.
Urlaub: Bäume, Wasser, Mikroklima
Drei Wochen Sommerurlaub am Parsteinsee: Jeden Morgen wache ich auf und die Wiese ist trotz der Dürre in Deutschland feucht, alles was draußen liegen geblieben ist, nass. Morgens mache ich einen Spaziergang an den Eichen vorbei, manche von Ihnen sind schon über 600 Jahre alt. Eine ruhige freundliche Begrüßung stahlt von diesen uralten Riesen zu mir. Dann ein Sprung in das klare Wasser. Motorboote sind hier nicht erlaubt. Naturschutzgebiet.
Es sind die Hitzetage und wir bewegen uns langsam, in der Sonne ist es nicht zum aushalten, gnadenlos knallt sie auf die Zeltwiese, man spürt, dass der Körper hier schnell an seine Grenze kommt. Unten am Wasser und unter den Bäumen ist es angenehm, ich genieße den Schutz von beidem vor meiner eigenen Überhitzung.
“3 Grad mehr” (globale Durchschnittstemperatur)
Ich lese mein Urlaubsbuch: “3 Grad mehr. Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern.“, Herausgegeben von Klaus Wiegandt. Ein Buch voller Aufsätze von ExpertInnen. Der Titel passt zu der Hitze, die ich hier tageweise erlebe. Wir haben bis zu 39 Grad. Diese Hitze: sie fühlt sich ein bisschen heißer an, als jene Sommerhitze, die im Norden Deutschlands früher zu den heiß begehrten Ausnahmetage gehörte und entsprechend begrüßt und zelebriert wurde. Nur ein bisschen heißer, vielleicht 2 Grad mehr. Aber dieses bisschen heißer und die Reaktionen in meinem Körper hierauf lassen mich ahnen, wie 3 Grad, 4 Grad, 5 Grad mehr sich anfühlen würden. Nicht gut. Nicht gesund. Und einschränkend bis gefährlich. Und ich bin gesund und trainiert, weder Kind, noch alt noch krank.
= 6 Grad mehr in Deutschland
Ich lese in meinem Buch: tatsächlich sind wir in Deutschland schon bei 2,3 Grad mehr seit Beginn der Industrialisierung angelangt. Ich lerne, dass Deutschland als ein Landgebiet sich etwa doppelt so schnell erwärmt, wie der globale Mittelwert, der zu 70% aus Meerestemperaturen gebildet wird. Das gilt für die meisten Landgebiete. D.h. bei einer globalen Erderwärmung um 3 Grad würde es in Deutschland zu einem durchschnittlichen Temperaturanstieg um 6 Grad kommen. Damit wäre Berlin wärmer als es Madrid heute ist! In einer 3 Grad (bei uns also 6 Grad) wärmeren Welt wollen wir nicht leben müssen - auch nicht im privilegierten Deutschland, das wird im ersten Teil des Buches mehr als deutlich.
In einer solchen Welt werden wir aber Ende des Jahrhunderts leben, wenn sich nicht ganz grundlegend etwas ändert - und zwar schnell, auch das geht aus dem Buch deutlich hervor. Schon jetzt haben wir als Menschen der Atmosphäre schon genug CO² hinzugefügt, dass wahrscheinlich die nächste natürliche Eiszeit, die ansonsten in 50.000 Jahren fällig wäre, ausfallen wird. Heizen wir die Erde um 3 Grad auf, werden wohl die natürlichen Eiszeitzyklen der nächsten halben Millionen Jahre ausbleiben. So weit in die Zukunft reicht unser aktuelles Handeln! Irgendwie auch erstaunlich.
Es gibt Lösungen für den Klimawandel!
Der zweite Teil des Buches befasst sich zum Glück mit den möglichen Lösungen für den Klimawandel und skizzierte eine Trias, mit deren Hilfe wir eine 3 Grad wärmere Welt noch abwenden können: Energiewende, Effizienzsteigerung und naturbasierte Lösungen. Jeder der hier präsentierten Aufsätze von führenden WissenschaftlerInnen in den entsprechenden Feldern lässt mein Herz schneller schlagen: so viele tolle Ansätze, durchgerechnete Modelle, Kosten, die zwar hoch sind, aber vergleichbar mit dem was uns droht, erschwinglich, skizzierte Handlungsvorschläge, die zwar schwierig, aber nicht unmöglich erscheinen.
Regenwald und Wald - Abholzung/ Degradierung stoppen
Wald ist ein entscheidender Verbündeter dabei, eine drei Grad wärmere Welt noch zu verhindern. Sofern er halbwegs gesund ist und nicht brennt, speichert Wald enorme Mengen an Kohlenstoff und kühlt die Erde. Außerdem ziehen Wälder Regen an und sorgen für ein feuchteres und kühleres Mikroklima.
Genau das erlebe ich in meinem Urlaub und bei den Hitzetagen am Parsteinsee: der hier noch sehr gesunde Wald kühlt, er mildert die körperliche Belastung der Hitze und Wald und See zusammen sorgen dafür, dass trotz der Dürre morgens ein feuchter Tau den Boden überzieht. Wald ist also zentral um die Erhitzung und Austrocknung zu mindern. Aber der Wald auf der Welt wird immer weniger. Er müsste aber wieder und drastisch mehr werden. Wie kann das gehen?
Kompensationszahlungen und weniger Fleisch
Beispiel Regenwald: die Länder des globalen Nordens könnten jährlich etwa rund 50 Milliarden US Dollar an Kompensationszahlungen aufbringen und sich verpflichten, weniger Fleisch zu konsumieren. Die Länder, in denen Regenwald steht, bekommen die Kompensationszahlungen im Tausch gegen seine Nicht-Abholzung. Der Regenwald bleibt so wie er gerade ist oder wird wieder aufgeforstet dort, wo er schon abgeholzt wurde.
Mehr Wald!
Beispiel Wald: Weltweit könnten die Waldflächen ausgeweitet und re-naturiert werden. Dass das sogar in Wüstengegenden möglich ist, zeigen diverse Beispiele in dem Buch. Aber auch hierzulande müsste und könnte sich einiges ändern: Mehr Mischwald, weniger Nadelmonokulturen, die Renaturierung des Waldes, Wandel der Forstwirtschaft, mehr kühlende Waldflächen, eine schonendere Art der Holzgewinnung.
Statt 45 Hektar/Tag Bebauung - 45 Hektar/Tag Entsiegelung!
Voraussetzungsvoll? Natürlich: alleine in Deutschland werden täglich weiterhin 45 Hektar naturnaher Landschaft umgewandelt in Siedlungs- und Verkehrsflächen. Was würde passieren, wenn ab sofort diesbezüglich ein Verbot von Neubebauung erlassen würde? Oder mehr noch: wenn täglich 45 Hektar Fläche in Deutschland umgewandelt würden - “entsiegelt” - in Land, auf dem sich Natur wieder ansiedeln kann? Denn das tut sie: dort wo es noch Boden gibt und wir sie lassen, wächst Natur und es sähen sich Arten aus, die für das jetzige Klima gemacht sind. Wir müssten sie nur lassen, und manchmal ein bisschen unterstützen.
CO² bindender Bau und Gebäudewesen:
Beispiel Bau- und Gebäudebranche: Tatsächlich wäre neben dem Schutz und der Ausweitung der Wälder weltweit die Transformation des Bau- und Gebäudewesens ein zweiter entscheidender Hebel um eine drei Grad wärmere Welt noch zu verhindern. Denn immerhin: knapp 40% der heutzutage global ausgestoßenen Treibhausgase (v.a. CO²) kommen beim Bauen, Betreiben und dem Rückbau von Gebäuden und Infrastruktur zustande.
Hier müsste eine radikale Umkehr passieren: Wie würden wir bauen, rückbauen und Gebäude betreiben, wenn wir uns dazu verpflichten würden, das so zu tun, dass es der Atmosphäre CO² tatsächlich sogar entzieht statt es ihr zuzuführen? Langlebige Holzbauten kombiniert mit nachhaltiger Forstwirtschaft sind eine Antwort auf diese Frage. Das Stichwort hierzu lautet “Biobasierte Architektur” mit kohlenstoffspeichernden Naturmaterialien. In Wien gibt es z.B. bereits ein 84 Meter hohen Holzbau. Aber auch langlebige Bauten aus Bambus und anderen nachwachsenden und kohlenstoffspeichernden Rohstoffen sind eine Antwort.
aus Abgasen werden Kindergärten aus Holz:
Wir sähen unsere Städte wohl aus, wenn sie CO² bindend gebaut wären müssten? Bauten aus Holz, Grüne Dächer und/ oder Solarpannels auf den Dächern, Bäume in den Höfen, Terrapreta-und Humusgewinnung in den Hofgärten, intelligente, sparsame Heizsysteme, langlebige Holzmöbel in den Wohnungen statt kurzlebige Ikea-Regale, Tauschringe in den Nachbarschaften, geteilte Nutzung von Maschinen etc, autofreie Innenstädte, Endsiegelung und Humusanreicherung von Teilen der Flächen, etc. Im besten Fall verwandelt diese Strategie der “Wald-Bau-Pumpe” (Schnellhuber: Bauhaus für die Erde) das aus fossilen Energieträgern stammende CO² aus der Luft in Gebäude und Infrastrukturen von hohem gesellschaftlichen Nutzwert und ästhetischer Schönheit.
Z.B. Landwirtschaft und Humusschicht
Aber nicht nur in den Städten, auch für die Landwirtschaft werden CO² speichernde Wege skizziert. Diese erscheinen nicht nur realistisch sondern würden mitunter sogar eine bessere, gesündere und teilweise sogar effizientere Form der Ernährung der Weltbevölkerung möglich machen. Dabei geht es vor allem darum, die Humusschicht der Erde wieder zu erhöhen und damit nicht nur CO² zu speichern, sondern auch die Artenvielfalt zu erhöhen, die Degradierung der Böden aufzuhalten, Pestizitmengen zu reduzieren und die Qualität der Nahrungsmittel zu verbessern.
Weniger als 3 Grad = mehr an Schönheit, Lebensqualität und weniger teuer!
Viele weitere Beispiele werden in dem Buch skizziert. Die in dem Buch skizzierten Lösungen zeichnen in der Gesamtschau ein mögliches Szenario, in dem wir nicht nur die Erderwärmung auf ein erträglicheres Maß begrenzen würden, sondern auch noch an Schönheit, Lebensqualität, Gesundheit sowie Solidarität und Verbindung gewinnen würden. Das alles hat natürlich einen Preis: Namenhafte Institutionen wie Morgen Stanley und McKinsey schätzen, dass es ein Gesamtvolumen von ca. 2% des Weltsozialproduktes jährlich an Investitionen bräuchte, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Das hört sich viel an.
Auf der anderen Seite wird es um ein vielfaches teuer - sowohl ökonomisch als auch humanitär -wenn diese Ziele nicht erreicht werden. Hierzu gibt es verschiedenste ökonomische Modellierungen, die allesamt zu dem Ergebnis kommen, dass eine drei Grad wärmere Welt deutlich höhere Kosten/ Schäden verursachen würde (zwischen 10-50% des Weltsozialproduktes jährlich) als jetzt in eine Welt zu investieren, die bei 1,5 Grad Erderwärmung bleibt. Und das sind “nur” die ökonomischen Zahlen, dazu kommen humanitäre Katastrophen und ihre Folgen, Konflikte und Kriege, etc.
alter großer Baum - was tun?
Am Ende meines Urlaubs habe ich es ausgelesen. Ich spaziere ein Stück durch den kühlenden Wald, ich passiere sogar ein Moor, kassiere ein Paar Mückenstiche ein im Tausch gegen noch ein Paar Grad weniger gefühlter Temperatur (die Bewahrung bzw. Wiedervernässung der Moore ist übrigens eine weitere naturbasierte Lösung, die kühlt und CO² bindet). Ich bin sowohl erschreckt als auch hoffnungsvoll und nachdenklich.
Das was ich vorher schon wusste ist hier durch die verschiedensten wissenschaftlichen Aufsätze und den sehr aktuellen Überblick über die Möglichkeiten, die es schon gibt, nochmal bestätigt worden: In einer drei Grad wärmeren Welt werden wir alle irgendwie - natürlich in unterschiedlichen Ausmaßen - verlieren. Aber drei Grad müssen nicht sein. Wir können (noch) darunter bleiben. Eine andere Welt ist möglich, teuer, aber nicht unbezahlbar und sogar attraktiv. Was braucht es, damit wir als Menschheit und vor allem wir im globalen Norden endlich wirklich aus dem Knick kommen? Wo hakt es? Wie kann ich beitragen?
Ich bleibe an meinem Lieblingsbaum stehen, eine alte Eiche, die wie ein großes Gemälde in der Natur steht. Noch ein Paar Mückenstiche mehr, dafür ein erhabenes, irgendwie beruhigendes Gefühl beim Anblick dieses sehr alten Baumes: was würde er wohl dazu sagen? Ich komme mir albern vor, trotzdem frage ich ihn. Eine Antwort kommt leider nicht - dafür stellt sich in mir ein Freundschaftliches ja fast Komplizenhaftes Gefühl zu diesem alten Baum ein und eine Ruhe breitet sich in mir aus, die keine Worte hat.